Die Geburt eines Fohlens zu erleben ist ein Geschenk. Ein großes Geschenk. Normalerweise, dachte ich, würden Pferde in den frühen Morgenstunden gebären, wenn noch keiner wach ist, kurz bevor der Tag anbricht, kurz bevor das erste Sonnenlicht ihre Neugeborenen wärmen kann. So dass der Tag genügend Sonnenstunden bereit hält um die Wärme in das neue Leben zu tragen. Dass eine Stute mitten am frühen Abend, vor den Augen aller, beginnt ihr Fohlen zur Welt zu bringen erscheint mir eher ungewöhnlich. Acht Wochen zu früh …
Es ist April und die Witterung viel zu kalt. Das verlangt einen Kämpfer, ein hartgesottenes Geschöpf. Eines das viel abkann. All diese Bilder wandern durch meinen Kopf, während ich meine Stute beobachte. Urgewaltig rauschen die Wehen durch ihren Körper. Ich kann nachempfinden wie es sich anfühlt, ich erinnere mich. Brauchst du Hilfe? Nein. Alles ist gut, so wie es ist.
Und doch empfinde ich keine Freude … es ist als läge Stille über uns allen. Vielmehr kommt sie aus uns allen heraus. Die gesamte Herde ist ruhig. Je zwei bis drei Stuten begleiten abwechselnd die Gebärende. Sie stehen bei ihr, in gebührendem Abstand, ruhig atmend, fast versunken. Und so stehe auch ich da.
Ich tue nichts. Ich begleite sie einfach aus der Entfernung und bin voller Zweifel.
Es ist ruhig, trotz der offensichtlichen Schmerzen ist alles ruhig, auch sie wirkt auf mich innerlich sehr ruhig, obwohl sie sich körperlich windet und gewunden wird. Und ich empfinde keine Freude.
Nach einiger Zeit erscheint es mir als setzen die Wehen aus … das kann doch nicht sein … so eine Pferdegeburt muss doch schnell gehen … nach der Eröffnungsphase geht es schnell sagen sie … wenn die kleine Blase kommt müssen sich bereits die Vorderhufe zeigen … sie müssen in der Blase sein … da ist nichts! – Die Blase platzt und da ist nichts! – Acht Wochen zu früh …
Aber ich wollte ja vertrauen … ich wollte ja mit dem Leben fließen … und doch:
Ich rufe den Tierarzt. Aber er ruft nicht zurück. Warum ruft er denn nicht zurück? Was könnte er für sie tun der Tierarzt? Warum ruft er denn nicht zurück? Ein weiteres Mal gehe ich in den Stall. Meine Stute liegt auf ihrem extra für sie und ihr Fohlen errichtetem Strohbett. Ihre Augen drehen sich immer wieder weg. Sie scheint völlig versunken und doch völlig präsent. Sie steht erneut auf. Und mich trifft es wie der Blitz – aus ihr heraus baumelt ein lebloser Fohlenkopf.
Der Schmerz und die Trauer gehen durch und durch.
Und jetzt macht sich Panik breit und Ohnmacht! Ich fliege zum Telefon und rufe ein weiteres Mal den Tierarzt und noch einen anderen. Der hat keine Zeit. Und der andere ruft nicht zurück. Was ist denn nur los? – – – – – – – – ?
Und da dämmert es mir. … Ich blicke in Frekjas Augen und es ist als offenbarte sich mir ein Mysterium. Diese Ohnmacht zu fühlen. Und doch damit zu gehen. Nicht wild umher zu agieren. Nicht weg zu laufen. Nichts zu verändern. Präsent zu bleiben. Du kannst nichts tun. Du musst auch nichts tun. Alles was du tun kannst ist HIER zu SEIN. JETZT. Dich leben zu lassen. Dich gehen zu lassen.
Dich hingeben. Es wird getan sein.
Und da ruft er zurück, der Tierarzt. Ich bitte ihn her zu kommen. Schnell.
Frekja hat es geschafft. Der leblose Körper ist geboren. Acht Wochen zu früh.
Sie sinkt auf ihr Strohbett und fällt in einen tiefen Schlaf. Völlig fertig, völlig entkräftet. Dieses vierhundert Kilo schwere Pferd liegt am Boden und erscheint mir so klein und zart wie ein Vogel. Ich sitze bei ihr und darf da sein. In ihrer größten Verletzlichkeit darf ich bei ihr sein. Es gibt kaum ein größeres Geschenk. So sind wir uns und der Erde und dem Himmel so nah, in tiefer Trauer um ihr Kind.
Es war eine Stute. Sie war noch sehr, sehr klein. Wahrscheinlich gab es eine Infektion und sie war bereits tot bevor der Geburtsvorgang einsetzte. Sie war noch so klein dass kaum Fell ausgebildet war. Sie war ganz fein und zart und sie war wunderschön. Im Leben ebenso wie im Tod. Im Geboren werden ebenso wie im Sterben.
Frekja und ich sind uns so nah in dieser Zeit der Trauer, des Abschieds und der Initiation. Es ist als lehrte sie mich, mein Herz nochmal tiefer zu öffnen für uns und das Leben selbst. Für die Verletzlichkeit. Für die Schönheit im Schmerz. Für Liebe. Denn das ist das Leben. Und Schmerz, auch Trauer, auch Ohnmacht, sind sanft, verletzlich und gleichzeitig urgewaltig.
Und ich lerne ein bisschen mehr wie es ist, all diese Dinge wirklich zu fühlen, mich nicht darin zu suhlen, mich nicht zu wehren, nicht zu leiden, sie einfach zu fühlen. Zu fließen.
Es ist ein Unterschied, ob ich mit dem Leben fließen will oder ob es einfach passiert. Es ist ein Unterschied, ob ich irgendwie agiere oder ob ich aus einem Impuls handle. Wenn es mich einfach mitnimmt, das Leben, und ich aufhöre mich zu wehren. Wenn ich aufhöre zu kreieren. Denn das Leben formt sich selbst.
Und der Tod tut das auch. Es scheint mir keinen Unterschied zu geben. Der Tod ist das Leben. Der Traum ist die Wachheit. Und andersherum. Nur die Form scheint sich zu ändern.
Und dann gibt es keine Trennung mehr. Dann ist es eins. Dann ist es ein Sterben im Geboren werden. Schönheit im Schmerz. Freude in der Trauer. Glückseligkeit.
Das ist jetzt drei Tage her. Frekja geht es körperlich soweit gut. Sie bekommt ein paar Medikamente, darunter Hormone, weil sie ja nicht stillt. Sie schläft sehr viel und ist sehr still. Manchmal wacht sie auf dem Platz auf dem ihr totes Fohlen lag. Manchmal schweift ihr Blick in die Ferne. Manchmal taucht sie ab in die Tiefe. Manchmal kuscheln wir sehr intensiv. Es ist, als würde auch ich ihr eine Tür öffnen damit umzugehen. Sie trauert und ich mit ihr. Und das ist gut. Einfach wunderschön. Das ist Teil des Prozesses.
Sie war immer schon ein sehr sanftes Wesen. Dominant in der Herde zwar, aber von einer Zärtlichkeit und gleichzeitig klaren Bestimmtheit, die kaum zu greifen ist. Sanfte Bewusstheit sagte eine Freundin gestern. Das beschreibt es sehr gut.
Doch jetzt erscheint es, als strahlte diese Sanftheit mehr denn je. Eine liebevolle Hingabe an das Leben selbst …
Diesen Text findest du analog und auf echtem Papier in meinem Buch „Jeder Tag Gedankentanz“